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Revolution of taste: Wie Berliner Kochkünstler die Community stärken

Eine Detailaufnahme des Essens auf einer rosa Tischdecke.

In der wachsenden Foodszene der Hauptstadt ist eine neue Gruppe von Künstlern und Kollektiven entstanden, die einzigartige Kochansätze präsentieren.

In einer regnerischen Oktobernacht scharen sich im HAU Hebbel am Ufer einige Berliner Kunstinteressierte um eine u-förmige Festtafel. Sie sind hier, um einem vierstündigen performativen Dinner beizuwohnen, das von der interdisziplinären Künstler*innen-Plattform Creamcake veranstaltet wird. Zwischen musikalischen Beiträgen, Tanzperformances und literarischen Lesungen ist das Publikum eingeladen, die essbaren Skulpturen des brasilianischen Künstlers und Kochs Caique Tizzi zu genießen. Tizzi hat das Thema des Abends „Eat the Rich“, zum Anlass genommen, ein Festmahl aus Käseblöcken, geflochtenem Challah-Brot und Vanillebutter-Skulpturen anzurichten, wobei letztere in ihrer Form an die überdimensionalen Perücken von Marie Antoinette erinnern – Frankreichs verschwenderische Königin. „In meiner Arbeit verwende ich häufig eine bestimmten Zutat als Ready-made und untersuche ihre Symbolik und ihren historischen Einfluss“, erklärt Tizzi. „Kunst kann oft einschüchtern, aber Essen ist etwas, zu dem alle eine Beziehung haben.“

Kunst, die auf die eine oder andere Art mit Essen arbeitet, ist in der ganzen Stadt im Kommen. Berlins wachsende kulinarische Szene, die hier traditionell verbreitete Ablehnung des Konservativen und ein entsprechend aufgeschlossenes Publikum haben eine Reihe von Künstler*innen und Kollektiven hervorgebracht, die mit Essen experimentieren. „Meine Küche macht Spaß, wir hören Musik, tanzen, quatschen und reden Unsinn. Für mich überträgt sich das in den Geschmack und die Art, wie wir leben“, sagt Tizzi. Die gegenwärtige Bewegung wird von einer innovativen Gruppe von Künstler*innen und Köch*innen vorangetrieben, von denen viele Teil einer eng vernetzten Expat-Community der Stadt sind.

Eine schöne Präsentation von appetitlichen Speisen, die auf einem Tisch zum Servieren bereitstehen.
© Ella Yarnton (pictured: Dinner-Performance creation by Berlin based chef-artist Alexis Convento).

Die Australische Creative Producerin Ella Yarnton verbindet ihr organisatorisches Talent und ihre Leidenschaft für Essen mit ihrer Initiative Gather. Ihre kuratierten Dinner Events mit Köchen aus verschiedenen Diaspora Communities sind inzwischen legendär. Yarnton ist von der Kraft überzeugt, fremde Menschen am Esstisch zusammenzubringen – insbesondere nach Zeiten des Lockdowns. „Die Menschen wollen sich miteinander verbinden, sie wollen neue Leute treffen und es gibt ein verstärktes Interesse daran, etwas über andere Kulturen zu lernen. Essen kann hier ein großartiges Werkzeug sein“, erzählt sie.

Ein Höhepunkt für Yarnton war es, den berühmten Koch Akwasi Brenya-Mensa aus London nach Berlin einzuladen. In einer Neuköllner Weinbar präsentierte er seine Britisch-Ghanaische Küche in einem neuen Setting, und zeigte somit den Gästen eine neue Seite der westafrikanischen Küche, mit der sie vorher nicht vertraut waren. Durch ihr Projekt möchte Yarnton verschiedenen Köchen aus unterrepräsentierten Communities eine Plattform bieten. „Wenn du in deiner Community oder einer kleinen Gruppe an Menschen etwas bewirkst, bringt das im besten Fall einen Schneeballeffekt mit sich“, meint Yarnton.

Eine diverse Gruppe von Menschen versammelte sich um den Esstisch, unterhielt sich und lachte.
© Ella Yarnton (pictured: Dinner-Performance creation by Berlin based chef-artist Alexis Convento).

Im November veranstaltete Gather ein Abendessen der philippinisch-amerikanischen Künstlerin Alexis Convento, dessen kulinarisches Projekt Ulam sich der Dekolonisierung von Essen und der Überwindung von Systemen westlicher Dominanz verschrieben hat. Eine der ersten Kreationen von Ulam war ein Fünf-Gänge-Menü, dessen Zutaten von der Manila-Galeone Handelsroute inspiriert waren – jener Route, die es der spanischen Kolonialmacht ermöglichte, Waren aus dem asiatischen und pazifischen Raum zu importieren – , womit Ulam die Verbindung zwischen den Phillipinen und Mexiko zuückverfolgte. Als Convento 2019 von New York nach Berlin zog, begann sie philippinisches Essen in einem neuen Kontext zu entdecken. „Als ich nach Deutschland kam, wo die Geschmackspalette eine völlig andere ist, spürte ich plötzlich dieses Verlangen – ich wollte Chicken Adobo, ich wollte Lumpia Shanghai, ich wollte all das, was ich hier nicht so einfach in einem Restaurant bekommen konnte. Natürlich lernt man dann, wie man diese Dinge selbst herstellen kann.“ Während des Lockdowns trieb sie eauf den Berliner Märkten so viele philippinische Zutaten wie möglich auf. Inzwischen weiß sie, wo man frische Calamondinorangen und Kokosnussessig finden kann. Und manchmal, so erzählt es Convento, geht sie nicht mehr auf den Markt, um eine Zutat zu suchen, sondern bereitet sie einfach selber zu, wie zum Beispiel ihr eigenes Bananenketchup, eine Abwandlung von Tomatenketchup, die im Zweiten Weltkrieg populär wurde, als die Philippinen noch ein US-Territorium waren.

Diese Art und Weise, zwischen den Kulturen zu navigieren, spiegelt sich in ihren kulinarischen Kreationen wieder. So präsentierte sie zusammen mit Gather in der Orangerie ein Dinner, inspiriert von Kamayan, einem traditionellen philippinischen Festmahl, das die Gäste mithilfe ihre Hände essen. „Mir gefällt die Idee, die Formalität eines Tellers aufzubrechen und das Essen vielmehr zu einer spielerischen Erfahrung zu machen“, erzählt Convento. Es ist diese Flexibilität, die einen der zentralen Unterschiede zwischen einer kulinarischen Künstlerin und einem Koch darstellt. „Eine Köchin scheint mir doch sehr festgelegt und kalkuliert zu sein, denn das zuzubereitende Gericht ist häufig genau dasselbe, wie schon vor fünf Monaten. Ich weiß nicht, ob ich dazu in der Lage wäre.“ Convento, die aus dem Tanz und der Performance kommt, betont, dass Improvisation und Intuition eine große Rolle in ihrer kreativen Arbeit spielen. „Ich lasse zu, dass sich die Aromen jedes Mal ein wenig verändern, je nachdem, was gerade verfügbar ist oder wie ich mich an dem Tag fühle.“

Convento beschreibt ein Interesse daran, Essen zu queeren, eine Praxis die ihren Ursprung in der Queertheorie hat und darauf abzielt, binäre Zugänge zur Welt und bestehende Hierarchien herauszufordern und verschwimmen zu lassen.

Eine Frau mit einer Schürze ist bereit zu kochen.
Portrait Alexis Convento © Amy Ritter.

Diesen Ansatz teilt auch Jasmine Parsley, eine Künstlerin, für die das „urban foraging“ – die Suche nach wilden Nahrungsressourcen im urbanen Raum – zentrale Praxis ist. Auf ihren während des Lockdowns täglichen Exkursionen durch die Rehberge begann Parsley, essbare Pflanzen wie Kapuzinerkresse, Löwenzahn und Brennnessel zu sammeln. Heute organisiert sie regelmäßige „foraging“-Workshops und performative Kochsessions, bei denen die Teilnehmer*innen etwas über die lokale Vegetation lernen und gleichzeitig neue Zugänge zu der sie umgebenden Landschaft entwickeln können.

Parsley macht deutlich, dass eine Erkundung der essbaren Pflanzen in unserer städtischen Umgebung unsere bisherigen Ideen davon infrage stellen kann, wie unser Essen schmecken sollte. „Manchmal muss ich die Leute ein bisschen vorwarnen: ‚Das mag zunächst nicht gut schmecken. Du wirst dich an diesen Geschmack gewöhnen müssen‘“. Und doch ist Parsley stolz auf all die Kreationen, die sie aus den selbst gesammelten Pflanzen bisher gezaubert hat, darunter Olivenöl, ein Zitrone-Kardamon-Kuchen mit Marmelade aus japanischem Staudenknöterich oder ein Sirup aus kandierten Blättern, mit dem sich Desserts garnieren lassen. Und dann sind da noch ihre Salatkreationen, zusammengesammelt aus essbaren Blumen, Feldsalbei und Unkraut.

„Mich interessieren eben genau die Pflanzen, denen kein Wert beigemessen wird“, erklärt sie. Davon ausgehend möchte Parsley ein aktualisiertes kritisches Nachdenken über Pflanzen im urbanen Raum anregen. Die politische Dimension von Parsleys Arbeit spannt sich von Umweltthemen bis hin zu Fragen von Arbeit. „Wenn du für zehn, zwanzig Menschen Nahrung in der Natur sammelst, ist das ganz schön viel Arbeit“, gibt sie zu. „Gemeinsam in einer Gruppe zeigt sich plötzlich das feministische Potenzial darin, die Arbeit zu teilen und das Ganze gemeinschaftlich zu bewältigen.“ Außerdem macht es viel Spaß. „Ich habe viele neue nerdige Pflanzenfreund*innen gefunden“, lacht sie.

Einer von ihnen ist der Künstler Chris Paxton, der gemeinsam mit seinen Freund*innen Ruhi Parmar Amin und Evan Hamilton das kulinarische Kunstkollektiv Lucky You Studios betreibt. Die drei lernten sich 2018 auf einer Party kennen und erschaffen seitdem gemeinsam kulinarische Kreationen, Pop-ups , essbare Installationen und konzeptionelle Abendessen. Beim „Kartoffelhofer Feld“ – einem Kartoffelsalat-Wettbewerb auf dem Tempelhofer Feld, konnten Teilnehmer*innen einen Gutschein für ein privates Dinner von Lucky You Studios gewinnen. „Es ist uns sehr wichtig, die Menschen in unsere Arbeit miteinzubeziehen“, betont Paxton. „Letztlich geht es vor allem darum, Gemeinschaft und zwischenmenschliche Beziehungen zu schaffen.“

Ein Mann mit einer Schürze, der bereit ist, mit Fokus und Konzentration zu kochen.
© Katie Freeney (pictured: Lucky You Studios).

Auch wenn Berlin hinsichtlich der Verfügbarkeit hochwertiger Zutaten nicht mit den europäischen Foodie-Hochburgen London und Paris mithalten kann, ist Amin überzeugt, dass die Stadt mehr Möglichkeiten für kreative Experimente bereithält. „In Berlin gibt es diese Freiheit zu tun, was man will, ohne dass sich jemand darum schert“, sagt Amin. „Wir haben nie den Druck verspürt, alles von Beginn an richtig machen zu müssen“, sagt sie. „An Orten, an denen die Menschen höhere Standards bei ihrem Essen gewöhnt sind, sind sie möglicherweise auch weniger bereit, etwas Ungewöhnliches auszuprobieren“, fügt Hamilton hinzu.

Im Winter letzten Jahres veranstalteten Hamilton und Großer Garten e.V. ein performatives Dinner mit dem Titel „Yearning is the sweetest sauce“ (dt.: das Verlangen ist die lieblichste Soße). Die Gäste waren zu eintägigem Fasten geladen, das bei Sonnenuntergang im Brandenburger Bahnhof Wilmersdorf mit einem stillen 4-Gänge-Menü gemeinsam gebrochen wurde.

Hamilton war besonders von den Reaktionen zweier Frauen berührt, von denen eine aus Saudi-Arabien und die andere aus Ägypten stammte. Das Dinner weckte bei beiden Erinnerungen an ihre Kindheit, an das Fasten während des Ramadans und die Schönheit und Freude, die dieser Praxis inne liegt. „In einem solchen Moment zeigt sich für mich das künstlerische Potenzial dessen, was wir tun. Es geht in unserer Arbeit viel mehr um ein Konzept und einen Rahmen als um den transaktionalen Akt eines Pop-up-Events in einem Restaurant“, sagt er.

Eine diverse Gruppe von Menschen sitzt am Tisch und unterhielt miteinander.
© Ella Yarnton.

„Essen hilft, die Grenzen zwischen Menschen zu überwinden”, sagt Lalo Gomes, ein venezolanischer Künstler, Dramaturg und Koch, der in seiner kulinarischen Praxis LaLove’s Kitchen Recherche, Storytelling und Improvisation verbindet. Seine performativen durational Kocheinheiten, die teilweise bis zu sechs Stunden dauern, zielen auf individuelle und kollektive Transformation ab. Gomes spricht darüber, wie marginalisierte und Diaspora-Gemeinschaften in Bezug auf Essen als Versorger und Versorgerinnen angesehen werden. Er glaubt, dass das Reclaiming des Kochens als künstlerische Praxis die Sichtweise der Menschen auf den Wert von Lebensmitteln und auf die Frage, wer für deren Bereitstellung verantwortlich ist, verändern kann.

LaLove’s Kitchen regt die Teilnehmer*innen dazu an, die Hierarchien des konventionellen Gastgewerbes zu überwinden und die Art und Weise, wie wir unsere Lebensmittel anbauen, teilen und konsumieren, neu zu denken. Gomes glaubt fest daran, dass Kochen eine Praxis ist, die die Gesellschaft bereichert und stärker anerkannt werden sollte. Immerhin steht ein kulinarisches Erlebnis für Genuss, Freude und gleichermaßen auch Fürsorge. In schwierigen Zeiten ist es besonders wichtig, Möglichkeiten für den gemeinschaftlichen Zusammenhalt zu kreieren. Lalo Gomes ist fest davon überzeugt, dass Essen die beste Sprache ist, um Menschen zu erreichen. „Die Revolution wird kommen“, sagt er. „Und lasst mich euch sagen, die Revolution schmeckt gut.“

Caroline Whiteley ist freie Kunst- und Kulturjournalistin und Redaktionsleiterin bei Fotografiska Berlin.